Von Andreas Dolle
Es gibt Gespräche, die wirken lange nach. Weil sie nicht nur Wissen transportieren, sondern Haltung. Weil sie nicht nur erzählen, sondern berühren. Das Interview mit Jörg W. Hartmann war genau so ein Gespräch. Wenige Wochen später, am 23. August 2025, ist Jörg überraschend verstorben – an einem plötzlichen Herzversagen.
Was bleibt, sind seine Worte. Seine Perspektiven auf internationale Führung. Seine Klarheit. Seine Offenheit. Und ein tiefer Blick in eine Welt, in der Leadership weit mehr bedeutet als das Beherrschen von Prozessen.
Führung heute heißt: Übersetzen können. Zwischen Generationen, zwischen Kulturen, zwischen Geschäftsmodellen und menschlichen Bedürfnissen. Jörg hat das gelebt – als erfahrener Top-Manager in der globalen Industrie ebenso wie als reflektierender Gesprächspartner. Er kannte die westlichen Erfolgsformeln ebenso wie die feinen Nuancen der japanischen Unternehmenskultur. Und er war bereit, darüber zu sprechen – nicht belehrend, sondern einladend.
Dieses Gespräch jetzt zu veröffentlichen, ist mehr als eine inhaltliche Entscheidung. Es ist ein Zeichen der Verbundenheit und des Respekts. Ein Beitrag dazu, dass Gedanken nicht verloren gehen. Sondern weitergegeben werden. Dort, wo sie gebraucht werden: im Dialog über die Zukunft von Führung.
Ich habe Jörg Hartmann über viele Jahre hinweg immer wieder erlebt – als Führungskraft, als Gesprächspartner, als jemanden, der selbst unter hoher Verantwortung nie die Menschlichkeit aus dem Blick verlor. Doch unser Podcast-Gespräch hat mir noch einmal eine andere Seite von ihm gezeigt: die des Brückenbauers zwischen Welten.
Jörg war viele Jahre in der internationalen Führung tätig, insbesondere im deutsch-japanischen Kontext. Und genau diese kulturelle Doppelperspektive prägte seine Haltung zur Führung in einer Weise, die selten geworden ist: differenziert, aufmerksam und tief reflektiert.
Er sprach nicht nur über die Unterschiede zwischen westlicher Direktheit und japanischer Harmonie. Er lebte diese Unterschiedlichkeit, weil sie ihn geprägt hatte – beruflich wie persönlich. Er beschrieb, wie Entscheidungsfindung in Japan oft über Konsens und lange Gesprächsschleifen funktioniere, während in europäischen Unternehmen eher auf Effizienz und schnelle Umsetzung geachtet werde. Aber Jörg urteilte nie. Er verstand. Und suchte Wege, beide Denkweisen miteinander zu verbinden.
Dabei ging es ihm nicht um das „entweder-oder“. Sondern um das „sowohl-als-auch“. Wie kann Führung Vertrauen schaffen – in einem System, das entweder auf Hierarchie oder auf Eigenverantwortung setzt? Wie kann man kulturelle Missverständnisse vermeiden, ohne seine eigene Prägung zu verleugnen?
Sein Credo war: Erst wenn ich meine eigene Haltung reflektiert habe, kann ich die eines anderen würdigen. Das gilt im internationalen Management ebenso wie in der täglichen Führungsarbeit im eigenen Team.
Ein besonders eindrücklicher Teil unseres Gesprächs war Jörgs Sicht auf Verantwortung. Für ihn war Führung nie eine Frage von Position oder Macht. Sondern eine Frage der Haltung – und der Verlässlichkeit in schwierigen Momenten.
Gerade in Krisenzeiten, so Jörg, zeigt sich, was Führung wirklich bedeutet. Nicht das Hochglanz-Leadership auf dem Papier, sondern das Handeln im Alltag. Er sprach über die Zeit der Corona-Pandemie, über Kurzarbeit, Unsicherheit und die Notwendigkeit, als Führungskraft nicht zu verschwinden, sondern präsent zu sein. Sichtbar. Erreichbar. Und ehrlich.
Was Mitarbeitende in solchen Zeiten brauchen, sagte Jörg, ist kein Heldenmut. Sondern Orientierung. Transparenz. Und vor allem: Kommunikation. Auch wenn die Antworten nicht immer sofort vorliegen. Auch wenn Entscheidungen schwierig oder unangenehm sind. Vertrauen entsteht dort, wo Führung verständlich macht, warum etwas passiert – und welche Gedanken dahinterstehen.
Besonders bemerkenswert war seine Differenzierung zwischen „Performance“ und „Resultaten“. Ein Thema, das auch im Sport diskutiert wird, aber in der Wirtschaft oft untergeht. Jörg sagte sinngemäß: „Man kann ein Spiel gewinnen und dennoch schlecht gespielt haben. Gute Ergebnisse sind nicht gleichbedeutend mit guter Leistung.“
Diese Unterscheidung war ihm wichtig – nicht nur aus analytischer Sicht, sondern auch im Sinne von fairer Bewertung und nachhaltiger Entwicklung. Wer nur das Ergebnis bewertet, verpasst oft die Chance, aus der Leistung zu lernen. Und wer kontinuierliche Leistung fördert, wird langfristig auch stabile Ergebnisse erzielen.
Jörg Hartmann sprach im Interview auch über Remote Work – nicht als Trend, sondern als Spiegel einer tieferliegenden Führungsfrage: Wie viel Selbstverantwortung sind wir bereit zu leben – und wie viel Vertrauen können Organisationen geben?
Für ihn war Remote Work kein Allheilmittel. Im Gegenteil: Er sagte klar, dass es ein Privileg sei, das nicht für alle gleichermaßen zugänglich ist. Rund 30 % der Beschäftigten könnten überhaupt nur davon profitieren. Der Rest arbeitet vor Ort – im Service, in der Produktion, in der Pflege. Das sei eine Realität, die man nicht romantisieren dürfe.
Gleichzeitig sei Remote Work eine Chance – für diejenigen, die bereit sind, Selbstführung zu praktizieren. Die nicht auf Kontrolle warten, sondern Verantwortung übernehmen. Doch genau hier beginnt das Spannungsfeld: Führungskräfte müssen lernen, loszulassen, während Mitarbeitende lernen müssen, sich zu organisieren. Das sei ein Lernprozess für beide Seiten.
Besonders differenziert wurde Jörgs Blick, wenn es um internationale Unterschiede ging. Als Führungskraft mit Verantwortung für Japan und Europa erlebte er tagtäglich, wie kulturelle Prägungen Zusammenarbeit beeinflussen:
Jörg erklärte, wie er über die Jahre gelernt hat, diese Unterschiede nicht als Barriere, sondern als Ressource zu verstehen. Er lebte in seiner deutschen Rolle ein sehr europäisch geprägtes Führungsverständnis – in seinem Reporting nach Japan aber musste er andere Spielregeln anwenden. Diese Fähigkeit, zwischen den Kulturen zu vermitteln, war eine seiner besonderen Stärken.
Sein Fazit: Globale Führung braucht kulturelle Intelligenz. Und das bedeutet nicht nur Wissen über andere Kulturen, sondern echtes Einfühlungsvermögen, Respekt und die Bereitschaft, das eigene Modell infrage zu stellen.
Für Jörg Hartmann war Führung immer mehr als das Steuern von Ergebnissen. Sie war für ihn eine Frage der Haltung – und der Fähigkeit, Veränderung vorzuleben, nicht nur zu moderieren.
Er glaubte nicht an Transformation durch Appelle. Stattdessen plädierte er für eine Kultur, in der Führungskräfte als Role Models agieren. Wer Wandel will, müsse ihn verkörpern. Das fängt bei kleinen Dingen an: Zuhören. Sich selbst hinterfragen. Entscheidungen erklären. Und hört bei der Bereitschaft nicht auf, Fehler offen einzugestehen.
Gerade in internationalen Organisationen, so Jörg, sei Innovation kein Zufall, sondern das Ergebnis bewusster Entscheidungen. Innovation entsteht, wenn Mitarbeitende verstehen, warum sich etwas verändert – und nicht nur wie. Das gelinge nur mit klarer Kommunikation, mit Beteiligung und dem Mut, Dinge zu vereinfachen. Die Herausforderung dabei: Sobald Prozesse einfacher werden sollen, entsteht Unsicherheit. Das ist der Punkt, an dem viele Transformationen scheitern.
Jörg sagte im Interview einen Satz, der hängen blieb:
„Zukunft ist planbar – aber nur, wenn wir auch bereit sind, Gegenwart infrage zu stellen.“
Diese Haltung zieht sich durch seinen Blick auf Organisationen. Er war überzeugt davon, dass Innovation Teil des Tagesgeschäfts werden muss – wie Training im Sport. Kein Projekt, sondern Routine. Wer Innovation nur als Ausnahme begreift, bleibt hinter den Möglichkeiten zurück.
Jörg Hartmann ist am 23. August 2025 überraschend verstorben. Die Nachricht kam unerwartet – und sie hinterlässt nicht nur eine persönliche Lücke, sondern auch eine fachliche. Denn Jörg war nicht nur ein Manager mit beeindruckender Vita, sondern ein Mensch, der Führung neu gedacht hat: differenzierter, interkultureller, menschlicher.
Seine Perspektiven, die er in unserem Interview teilte, wirken wie ein Kompass für alle, die in komplexen Organisationen Verantwortung tragen. Seine Gedanken zu Loyalität, zur Kraft der Rituale in der japanischen Kultur, zum Aushalten von Unsicherheit in Veränderungsprozessen – all das ist mehr als Erinnerung. Es ist Inspiration.
Jörg war keiner, der sich inszenierte. Er war jemand, der Klartext sprach – und dabei nie verletzte. Der Fragen stellte, bevor er Meinungen formulierte. Der Brücken baute zwischen Kulturen, Generationen und Managementstilen. Seine Rolle als Brückenbauer war nie laut, aber immer wirksam. Gerade deshalb werden viele das Gespräch mit ihm in diesem Podcast als Geschenk empfinden.
Die Veröffentlichung dieses Beitrags ersetzt kein persönliches Gespräch, keinen Handschlag, kein weiteres gemeinsames Projekt. Aber sie kann sichtbar machen, was bleibt, wenn jemand mit Haltung geführt hat:
Ein Gedanke. Eine Geschichte. Ein Impuls.
Etwas, das andere weiterdenken.
In Erinnerung an einen Menschen, der wusste, dass gute Führung nicht darin besteht, sich nach vorn zu drängen – sondern darin, anderen Raum zu geben.
Danke, Jörg.
– Andreas Dolle
Hinweis in eigener Sache
Das ausführliche Gespräch mit Jörg Hartmann wurde wenige Wochen vor seinem Tod aufgezeichnet. Der Podcast ist fertig produziert. Die Veröffentlichung erfolgt jedoch zu einem späteren Zeitpunkt – im Einvernehmen mit seiner Familie.